Ein erster Besuch bei Franz West in Wien, wahrscheinlich im Winter 1986. Auf dem Weg zum Atelier bestand er darauf, die U-Bahn zu nehmen und einen bestimmten Streckenabschnitt zu passieren, wohl zwischen Stadtpark und Kettenbrückengasse. Der Zweck war, auf bestimmte Leitungsschächte an den Wänden des Tunnels aufmerksam zu machen. Was da am Fenster vorüber glitt hinterließ nur einen flüchtigen Eindruck, aber Franz war der Hinweis wichtig. Im Atelier dann begegnete man dem Motiv erneut, nun eingegangen in ein mit Vedute betiteltes Relief. Der langgezogene Sekundenblick im trüben U-Bahnschacht – alltägliche und zugleich mesmerisierende Banalität – war zur stolzen Überschau mutiert: Canaletto aus dem Untergrund, so schien der Begriff zu suggerieren. Im nächsten Jahr prangte das Relief in der gelassenen Weite eines Hauses von Mies van der Rohe als Teil einer Ausstellung mit dem Titel Anderer Leute Kunst

Vor oder nach dem Besuch im Atelier tauchte aus der Manteltasche des Künstlers ein ziemlich zerlesenes Taschenbuch auf. Eselsohren fungierten hier und da als Gedächtnisstützen. Er suchte und las nur einen oder zwei Sätze oder auch nur Halbsätze vor, aber er wusste genau, welchen Gedanken er teilen wollte. Zu verstehen war so schnell jedoch kaum etwas. Nur der Titel des Buches saß auf Anhieb: Hand und Wort von André Leroi-Gourhan, dem Paläontologen und Anthropologen.

Und ein dritter Moment mit Franz West, 1989 bei der Einrichtung seiner Ausstellung im Museum Haus Lange. Der Transport der Arbeiten oder er selbst waren spät angekommen, aber die Sockel für seine Sitzmöbel mussten noch gestrichen werden. Das macht man unter Zeitdruck dann besser gleich selbst. Dabei redet es sich gut über dieses und jenes, auch über die damals noch neuen Sitze, zu denen man hoch muss auf die Podeste, um sie zu benutzen. Die Hände, die die Schauhilfen anstreichen, und die Worte, mit denen man etwas von den Arbeiten und Ideen verstehen will: Irgendwann war das nicht mehr zu unterscheiden. Mittlerweile war es spät geworden, die Sockel standen für die schräg gestellte Möbelschau bereit. Waren jetzt die Gedanken im Anstrich verschwunden, sprach der Anstrich von den Gedanken? Solch ein Verfließen der Kategorien schien einen Moment lang möglich. Bei der Eröffnung war dann alles real: die Menschen auf den Sitzen, redend, sinnend, vor die Wand oder aus den Fenstern blickend. Rüdiger Carl musizierte kurz dazu.

Drei Para-Erfahrungen mit Franz West und seinen Arbeiten. Eine eigentümlich beiläufige, aber nachdrückliche und informell-präzise Mischung aus schierer Alltäglichkeit, aus Worten gewordenen Gedanken und Skulpturen-Körpern. Solche Momente kommen mir immer wieder in den Sinn, wenn es um seine Kunst geht. Sie markieren die stimulierende Unauflösbarkeit des Widerspruchs von konkreter Gestalt und ständiger Transformation – auch wenn zu viele seiner Arbeiten zu oft posthum vom Betriebssystem Kunst still- und kaltgestellt werden.


(Published in: Franz West, Centre Pompidou, Paris, 2018, p. 106 (French), and Tate Modern, London, 2019, p. 106 (English))