Das Floß der Medusa als willkommenes Zitat 

Zweihundert Jahre nach seiner Fertigstellung und ersten Präsentation an prominenter Stelle in Paris kommt Théodore Géricaults Gemälde Le Radeau de la Méduse scheinbar wie gerufen. Ein improvisiertes Floß kurz vor dem Auseinanderbrechen in stürmischer See vor der Küste Afrikas, darauf gut zwanzig Männer, Schiffbrüchige, wenige vielleicht noch mit Hoffnung, die meisten verzweifelt, verletzt, tot. Winzig am Horizont taucht der Mast eines Schiffes auf. Einige winken mit zerfetzten Tüchern, zuoberst ein halbnackter Schwarzer. Der Vergleich mit den Flüchtlingen in unzureichenden Booten, die in den letzten Jahren auf dem Weg von Afrika nach Europa in Seenot geraten, drängt sich ohne weiteres auf. Wie ein historisches Echo erscheint das Bild des Malers neben den Fotos und Videos von heute, ebenso wenn auch auf andere Weise dramatisch, Mitleid, Abscheu und Hilflosigkeit provozierend. Das eine Bild wohlverwahrt seit langem im geschützten Raum des Louvre, die anderen sich überstürzend und flüchtig in Zeitungen, im Fernsehen, im Netz. Le Radeau de la Méduse war vom ersten Moment an unzweifelhaft Kunst, auch wenn es als Gemälde in seiner Zeit von einigen kritisiert wurde. Zwar hatten schon Zeitungen und ein Buch ausführlich über die Schiffskatastrophe berichtet, ein Bild im eigentlichen Sinn konnte man sich von dem Ereignis drei Jahre nach dem Untergang der Méduse aber nur dank dieses Gemäldes machen. Die Medienbilder von heute dagegen erscheinen so gut wie zeitgleich mit den Vorgängen auf See. Es sind viele, unterschiedliche, und nur manchmal gelingt es einem, eine Zeit lang zu einer Art Emblem zu werden. Die meisten verschwinden so schnell wie sie aufgetaucht sind: visuelles Gestöber im Malstrom der laufenden Ereignisse. Von Kunst ist in diesem Zusammenhang nicht sie Rede. Und wenn ein Künstler die Bilder aufgreift, weil er sie den Kurznachrichten entreißen will, lauert schnell die Pathetik der übergroßen Geste, oder er fügt sie in eine Form, die ihren Kunstcharakter versteckt oder verleugnet (Ai Weiwei etwa hat Beispiele für beides geliefert).

Wenn das Gemälde Géricaults als Anlass oder Ausgangspunkt für eine größere Ausstellung in einer angesagten kommerziellen Galerie dient*, wie steht es dann heute mit dem Verhältnis von gesellschaftlichen und politischen Ereignissen und ihrer Reflexion in Bildern der Kunst? Nicht irgendwelchen Bildern, sondern solchen, die eine unmittelbare ästhetische Erfahrung beanspruchen? Wie zumal steht es mit den traditionellen Medien der Malerei und der Skulptur und wie mit dem ihnen als Auftrittsort dienenden Museum? Eins ist sicher: Solche Kunst-Bilder können in keiner Weise mehr Erstinformationen über die Ereignisse liefern, sie können die in anderen Medien verbreiteten, kommentierten, manipulierten Geschehnisse nur zitieren, interpretieren oder metaphorisch verarbeiten. Die Komplexität und Intensität der alten Medien hat notgedrungen eine Art Trägheit gegenüber den in großer Geschwindigkeit, wenn nicht live übermittelten Ereignissen erlangt. Bevor ein Bild gemalt oder eine Skulptur ausgeführt werden kann, ist aus den Fakten bereits ein Konglomerat von visuellen und sprachlichen Informationen und Meinungen geworden. Dieses Zuspätkommen der Kunst-Bilder befreit sie vom unmittelbaren Zwang zur Aktualität, es schafft eine Distanz zu den Ereignissen, die für artistische Reflexion genutzt werden kann. Diese Chance zu weitergehender Analyse, durchdachter Verarbeitung und präziser Form entzieht die so entstehenden Bilder jedoch gleichzeitig weitgehend den allgemeinen Foren der Auseinandersetzung. Und zwar einerseits institutionell, indem der Ort dieser Bilder das Museum/die Galerie mit ihrer eingeschränkten Öffentlichkeit ist. Und andererseits im Hinblick auf Aktualität, die eine wesentliche Voraussetzung in der Ökonomie der Aufmerksamkeit darstellt. Das ist keine vollständig neue Situation, aber sie hat sich unter den herrschenden medialen und digitalen Verhältnissen nicht nur zeitlich entscheidend radikalisiert.

Wenn Martin Kippenberger die Posen verschiedener Körper auf Le Radeau de la Méduse  zuerst als Modell im Foto und dann in großformatigen Gemälden nachahmt, setzt er sich (als Leidenden) in eine durch die Kunstgeschichte geadelte Pathosformel ein. Ein Zusammenhang mit dem aktuellen Ereignis von 1816 existiert nicht mehr, nur noch einer mit dem Kunstwerk von 1819, und dieser wiederum ist allein motivischer beziehungsweise allgemein-menschlicher Art. In soweit handelt es sich um eine bekannte und legitime Art, eindrucksvolle und erprobte Vorbilder für eigene künstlerische Zwecke zu benutzen. Wenn Susi Pop Le Radeau de la Méduse exakt zweihundert Jahre später in Originalgröße reproduziert, liegen die Dinge anders. Géricaults Gemälde ist in ihrer Version bewusst nur noch ein Schatten seiner selbst. Die Reduktion der Malerei auf die eine, technische Farbe Magenta und die Flächigkeit des Siebdrucks lassen erst gar nicht den Verdacht aufkommen, dass es sich um einen Einschreibungsversuch in die Kunstgeschichte handelt. Das Motiv steht den Informierten als prototypisches Bild für eine Katastrophe auf See zur Verfügung, und selbst in der sozusagen entkörperlichten Magenta-Version taugt es auch für die, die das Original nicht kennen, als Rahmenmotiv. So kann es 2019 mehr oder weniger direkt die Verbindung zu den aktuellen Dramen im Mittelmeer herstellen. Das Bild scheint so an beiden Sphären teilhaben zu wollen, an der aktuellen Wahrnehmung und Problematik und an der künstlerischen Reflexion.

“Was aber die Schonheit sei, das weiss ich nit.“ Albrecht Dürer beginnt mit diesem Satz einen Abschnitt für die „Speis der Malerknaben“, in der er 1512-1514 sein kunsttheoretisches und kunstdidaktisches Wissen zusammenfassen wollte. Er meint, dass man leichter erkennen könne, was falsch oder unzureichend in der Kunst sei als dass man wüsste was schön ist. An einer Stelle hilft er sich zwar mit dem Hinweis auf das Empfinden der Mehrheit, delegiert aber letztlich die Frage an eine metaphysische Instanz: „Niemands weiss das dann Gott, die Schon zu urtheilen.“ Dürer benennt klar die Frage nach der Schönheit, aber er erklärt sich für inkompetent, sie zu beantworten. Stattdessen versucht er, als Praktiker die Fehler zu vermeiden, und reicht als Lehrender seine Erkenntnisse zu Maß, Proportion und anderem weiter.

Dürers Satz gehörte ebenfalls zu den Ansatzpunkten der erwähnten Galerieausstellung, aber von ihm führt streng genommen kein Weg ins 21. Jahrhundert. Im Sinn der Revolutionen und Revolten der künstlerischen Moderne könnte man ihn vielleicht noch missverstehen als Auffoderung, die Schönheit als obsolet beiseite zu lassen und sich statt dessen auf andere, zeitgemäße Konzepte zu konzentrieren, und sei es das Hässliche und seine Verwandten. Heute kann man das Zitat des Satzes jedoch eigentlich nur noch als einen nostalgischen Seufzer verstehen. Schönheit als Vorstellung und Übereinkunft in der Kunst ist verloren, man trauert ihr nach, möchte dennoch an ihre verschleierte Existenz glauben, und schweigt allein für sich oder im kleinen Kreis Gleichfühlender: Finis pulchritudinis – um in der selben Gemütslage zu bleiben.

Wenn Schönheit sich also heute noch in dieser Schwundstufe als irgendwie denk- oder auch wünschbar im Hintergrund räuspert, sollte man sie besser gleich durch „nachdrückliche, nachhaltige ästhetische Erfahrung“ oder dergleichen ersetzen. Weit von jedem Kanon des Guten und Richtigen entfernt wird so immerhin noch die Existenz des Ästhetischen in der Kunst akzeptiert. Also die Bedeutung der Form, ihrer Wahrnehmung und ihres kritischen Potenzials akzeptiert. Aber damit gelangt Le Radeau de la Méduse im Zitat durch eine zeitgenössische Künstlergruppe und in einer breit gestreuten Ausstellung in jenen beliebten Rechtfertigungszusammenhang, der für die präsentierte Kunst aktuelle gesellschaftliche Relevanz suggeriert und gleichzeitig ihre Autonomie reklamieren möchte.

* „What beauty is, I know not“, kuratiert von Kasper König in der Galerie Johann König, Berlin, 2019

(2019, unpublished)