Löschzüge und Geschmacksverstärker

 

Die fröhlichen Urstände, die die Salonkunst des 19. Jahrhunderts z. Z. in Ausstellungen, beim Publikum und im Feuilleton feiert, sind nicht ganz neu. Die Rehabilitierung dieser auf die Beeindruckung des Justemilieu schielenden Akademiker begann schon vor 25 Jahren mit der Eröffnung des Musée d’Orsay in Paris. Unter post-modernen Vorzeichen wurden sie im Namen einer ausgleichenden Gerechtigkeit und mit wohl kalkulierter Provokation Seite an Seite mit den Heroen der frühen Moderne vorgeführt. Seitdem hat es manche durchaus verdienstvolle Wiedervorlage des schon lange zu den Akten Gelegten gegeben. Nichts gegen historische Erkenntnis, denn nur vor der zeittypischen Folie des Geläufigen wird der Bruch des Neuen – aber auch seine Verbindung zum Vorhergehenden – deutlich. Es kommt halt nur darauf an, was für einen Gebrauch man von der Salonkunst macht. Hans-Joachim Müller hat die etwas hämische Begeisterung mancher Zeitgenossen über diese „Erfrischung“ zu Recht aufs Korn genommen (WELT vom 25. 11. 2010). Wenn die wohlfeile Lust an den alten Bildermaschinen, ihren bombastischen Erzählungen und ihrem kitzeligen Schauerpotenzial 2010 für ein nochmaliges Avantgarde-Bashing herhalten muss, sollte man einmal fragen, ob hier nicht mehr als nur Unlust an einer als langweilig empfundenen Kunstgegenwart die Ursache sein könnte. Gibt es etwa eine „Seelenverwandtschaft“ über ein gutes Jahrhundert hinweg, um im Ton der damaligen Zeit zu bleiben?

 

Anders gesagt: Was wäre die Salonkunst von heute? Vor kurzem wurde die Markt- und Feuilletonsau einer so genannten „Neuen Leipziger Schule“ durchs Kunstdorf getrieben. Durchaus unironisch sollte der Mottenkistenbegriff der Schule herhalten, um einen Trend zu proklamieren, d. h. etwas scheinbar oder tatsächlich Abgelegtes als zeitgenössisch zu behaupten. Es fällt nicht schwer, angesichts solcher strategischen Vorzeichen und weil es sich eben um Malerei handelt die mehr oder weniger eingängige, mal neu-bürgerlich melancholische, mal boudoirmäßig provokante, mal verrätselte Bilderwelt mit der alten Salonkunst kurzzuschließen. Es lebe das Genre und der passgenaue Service an der Befindlichkeit des Kunden! Aber macht das Phänomen am Medium halt? Muss Salonkunst sich immer in Öl auf Leinwand, aus der Position des sicheren Rahmens heraus äußern? Oder ist es nicht vielmehr so, dass der Akademismus der siegreichen Avantgarden ein solch vielfältiges Repertoire bereithält, dass auch ganz andere Formen von Kunst heute die entsprechenden Bedürfnisse befriedigen können? Man kennt den „Turbinenhalleneffekt“, den Tate Modern in London vorgegeben hat, als das überaus erfolgreiche Museum begann, für diesen Monsterraum temporäre Installationen in Auftrag zu geben. Olafur Eliasson z. B. hat dort vor einigen Jahren mit einer künstlichen Sonne, einem zarten Nebel und einem verspiegelten Himmel ein perfektes Wellnessdesign für Touristenschwärme inszeniert, das auf Anhieb Pop-Dimensionen erreichte. Sein eigener Ansatz dabei mag durchaus in guter modernistischer Tradition stehen, die institutionelle und gesellschaftliche Realität aber macht einen anderen, einen unkritischen Gebrauch davon. Oder man denke an eine der typischen Performances von Vanessa Beecroft mit Scharen elegisch dastehender, kaum bekleideter junger Frauen: Unterscheiden sie sich wirklich so sehr von den mit einem archäologischen Mäntelchen verbrämten Nacktszenen der Salonmaler? Ist der für die tableaux vivants der Künstlerin reklamierte selbst-, gender- und medienkritische Blick des zeitgenössischen Publikums mittlerweile nicht ebenfalls zu einem guten Teil nichts weiter als bildungsbürgerlicher Habitus ohne weitere Konsequenz? Aber vielleicht möchte man zur Vorweihnachtszeit lieber in den Rentierzoo nach Berlin, wo Carsten Höller im Hamburger Bahnhof seine Hallen füllende Installation „Soma“ eingerichtet hat? In einer für die Unterströmungen der Moderne nicht untypischen Konstellation von Naturwissenschaft und Mystik wird eine Art von Versuchsanordnung zur Besichtigung freigegeben, die den Charme einer bedeutungsgeladenen Freizeit hat. Und noch ein ketzerischer Gedanke schleicht sich ein: Ist es womöglich auch Salonkunst, wenn jemand wie Rirkrit Tiravanija für und mit einem ausgesuchten Mittelschichtenkunstpublikum kocht und mahlzeitet? Auch ein emanzipatoriches Instrument wie Partizipation kann akademisch werden, den status quo nur noch auskleiden.

 

Um nicht falsch verstanden zu werden: Der Salonkunstverdacht zielt nicht grundsätzlich und schon gar nicht in erster Linie auf die Künstler – auch wenn Gelegenheit mitunter Diebe macht. Er fragt vielmehr nach den Bedingungen und Erwartungen in einer voll entwickelten und im Mainstream der kulturellen Aufmerksamkeit seit geraumer Zeit angekommenen zeitgenössischen Kunst. Es geht um den Betrieb, also um unser aller Funktionieren miteinander in dem, was etwas großspurig Kunst-“Welt“ genannt wird. Ähnlich wie im 19. Jahrhundert dienen die eben genannten und manche anderen Veranstaltungen dem Unterhaltungsbedürfnis einer aufgeklärten, bildungsaffinen, prestigebewussten und gar nicht so kleinen Klientel. Dagegen lässt sich nichts einwenden, höchstens die Frage, wie weit solche Kunsterlebnisse tragen, wie viel sie von den künstlerischen Herausforderungen ihrer Zeit wirklich annehmen und verdichten, ja, wie weit sie womöglich quer zu den Erwartungen stehen. Schwerer wiegt der Verdacht, dass sich die alte und die neue Salonkunst darin nahe sein könnten, dass beide bei allem Spiel mit den Wünschen und Ängsten der Zeit schließlich zu einer allseits verträglichen Formulierung finden, dass sie zugleich Kinder und Produzenten des Justemilieu sind. Und noch eine Vermutung, auch auf die Gefahr hin, als Kulturpessimismus gelesen zu werden: Basiert Salonkunst nicht auf einem fundamentalen Gefühl der Verunsicherung, der Desorientierung? Damals das innere Nicht-Schritt-halten-Können mit dem Modernisierungsschub von Industrialisierung und Massengesellschaft, heute das Schwindelgefühl angesichts der Globalisierung? Dass man da mit klingendem Getöse und blitzenden Wagen (in Frankreich heißt Salonkunst „l’art pompier“, Feuerwehrkunst) oder mit weichen, aber geschmacksverstärkten Bildern einer schönen Welt reagiert, ist vielleicht verständlich – über den künstlerischen (und gesellschaftlichen) Wert unterhalten wir uns später noch einmal.

 

(Published under the title „Eine Art Freizeitangebot“ in DIE WELT, December 2, 2010, p. 25)

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