Leerer Sterberaum
In der aktuellen Pandemie melden offizielle Stellen täglich die Zahl der im Zusammenhang mit Covid-19 Gestorbenen. Grafiken illustrieren das mal dramatische, mal wenig signifikante Auf und Ab. Was Sterben und Tod angeht, bleiben die nackten Zahlen und dürren Bilder abstrakt. Die Medien zeigen die immer gleichen Aufnahmen aus einem Gewirr von Maschinen, Schläuchen, Kabeln und dazwischen das irgendwie tätige medizinische Personal, die nachts durch oberitalienische Städte fahrenden Militärlastwagen, die Leichen abtransportieren, oder die zweckentfremdeten Kühllaster am Hintereingang New Yorker Krankenhäuser. Mehr Bilder von Tod und Sterben hat die Pandemie kaum hervorgebracht. Das Fehlen der Bilder entspricht dem weitgehenden Fehlen eines öffentlichen Gesprächs. Dann und wann gab es einen Beitrag im dritten Programm der Rundfunksender, in der alltäglichen Berichterstattung meldeten sich selbst die Kirchen, die doch „zuständig“ sein sollten, kaum mit fundierten Wortmeldungen. Da darf man wohl auch von der zeitgenössischen Kunst nicht allzu viel erwarten, erst recht nicht in schneller Reaktion auf die außergewöhnliche Lage. Aber es gibt Ausnahmen, die auf einer langen und intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema aufbauen. Eine solche ist Sterberaum von Gregor Schneider, im Januar 2021 während eines Lockdowns für drei Tage und Nächte auf der Bühne eines Theaters installiert und per Livestream ins Internet gestellt.
Als Schneider 2008 in einem Zeitungsinterview sagte: „Ich möchte eine Person zeigen, welche eines natürlichen Todes stirbt oder gerade eines natürlichen Todes gestorben ist. Dabei ist mein Ziel, die Schönheit des Todes zu zeigen“ löste das einen Skandal aus. Die meisten Kommentare sahen darin den anmaßenden, effekthascherischen und zynischen Ausdruck eines zweifelhaften künstlerischen Egos. Damals existierte Sterberaum bereits, wurde öffentlich jedoch erst ab 2011 gezeigt. In einem völlig abgedunkelten Raum hat man durch zwei große, über Eck liegende Fenster Einblick in ein erleuchtetes und leeres Zimmer einfacher, moderner Art. Dieser Innenraum ist der weitgehend originalgetreue Nachbau eines Zimmers in Haus Esters in Krefeld, das nach Entwürfen von Ludwig Mies van der Rohe 1927-1930 errichtet wurde. In und mit diesem Raum geschah während der Ausstellungen in verschiedenen Museum nichts. Im Nirgendwo der Dunkelheit konnte er nicht betreten, sondern nur betrachtet werden: reines Anschauungsobjekt in einer Art Ortlosigkeit. Allein der Titel stellte eine weitläufige Verbindung zum Sterben her.
Es geht in Sterberaum nicht um eine Darstellung des Sterbens wie sie etwa am Anfang des 20. Jahrhunderts Ferdinand Hodler aus persönlicher, unmittelbarer Nähe und über längere Zeit geleistet hat als er das Siechtum seiner Geliebten Valentine Godé-Darel ins Bild brachte. Auch geht es nicht um einen angeschauten Tod durch die Darstellung eines Gestorbenen wie sie Hans Holbein der Jüngere im 16. Jahrhundert mit seinem Toten Christus in realistischer Weise geschaffen hat. Oder um den Versuch, die Dimension des Todes durch Materialien, die von Leichen stammen oder mit ihnen in Berührung gekommen sind, zu vergegenwärtigen wie in manchen Arbeiten von Teresa Margolles heute. Der leere Raum Schneiders hat von sich aus keine Beziehung zu Sterben, Tod und Trauer.
In den vergangenen Jahren ergaben sich Kollaborationen zwischen Schneider und einigen Theatern, die im inhärenten oder manifesten performativen Charakter seiner Räume ihren Schnittpunk haben. Für den Künstler schien das Theater zudem ein Medium zu sein, in dem er hoffte, seine radikaleren Arbeiten womöglich leichter realisieren zu können als im Kontext der Bildenden Kunst. Im ersten Jahr der Covid-19-Pandemie bot so die Wiesbaden Biennale dem Künstler die Möglichkeit, Sterberaum in einem Theater weiterzuentwickeln. Das Projekt sah vor, den Raum auf der Bühne aufzubauen und ihn einer Person zur Verfügung zu stellen, die im Sterben liegt. Die medizinische Versorgung und die persönliche Betreuung wären die gleichen gewesen wie zuhause, in einem Krankenhaus oder Hospiz. Zuschauer hätte es im Theatersaal keine gegeben, und das Geschehen wäre auch nicht gefilmt oder in anderer Weise aufgezeichnet und verbreitet worden. Das individuelle Sterben hätte sich die Zeit genommen, die es braucht. Allein die Betroffenen hätten die Umstände diese Prozesses bestimmt. Der konzeptuelle Rahmen der künstlerischen Arbeit hätte sich dabei notwendigerweise geöffnet und unter dem Einfluss der Beteiligten verändert. Künstlerisch wie moralisch bleibt die Frage zentral, warum dieser individuelle Tod in einem Theater, mithin in einem prinzipiell öffentlichen Raum hätte stattfinden sollen. Sterberaum hat als Kunstwerk einen intrinsischen Anspruch auf Öffentlichkeit: Ohne Frage ist es ein Anliegen der Arbeit, das Nachdenken über Sterben und Tod in einer angemessenen und intensiven Weise in einer Gesellschaft anzuregen, die diese fundamentalen Tatsachen zu verdrängen gewohnt ist, die ihnen keine oder höchstens verborgene Räume zuweist. Das Theater als besonderer Ort von öffentlichem Erleben, Reflexion und Diskussion scheint dieser Absicht einen passenden Rahmen zu geben. Das Projekt in Wiesbaden scheiterte jedoch. Haben die eigenen Prämissen das Konzept von seiner Umsetzung abgehalten?
In Schneiders gesamter Arbeit gibt es einen produktiven Widerspruch von Zeigen und Nicht-Zeigen. Seine Räume mögen noch so konkret und vom Leben berührt sein, zugleich fehlt in ihnen stets etwas. Das Anwesende hat als Echoraum immer etwas Abwesendes. Nur wo beides zusammenfällt und das heißt an einem eigentlich unmöglichen Ort zwischen Bild und Nicht-Bild existiert die Arbeit. Bei der Idee von Sterberaum geht es nicht um das Bild einer schwer zu ertragenden Realität, die stattgefunden hat, und in der Folge um Trauer im geläufigen Sinn. Etwas ganz Reales im Hier und Jetzt steht im Fokus: ein individuelles Sterben und ein konkreter Tod in einem konkreten Raum. Wie immer bei Schneider ist der Ausgangspunkt die unmittelbare Wirklichkeit von Materialien und Räumen. Ihnen ist man als Betrachter/Benutzer ausgesetzt und in ihnen ist man auch gleichsam gefangen. Man stößt gegen die schiere Materialität als unüberwindliche Grenze und ahnt doch, dass etwas Anderes/die Sache, um die es geht, außerhalb existiert, hinter der Wand sozusagen. Das ist auch das Paradox von Sterberaum.
Im Januar 2021 schließlich schuf die Aufstellung von Sterberaum auf der Bühne des Staatstheaters Darmstadt ein eindrückliches aber uneindeutiges Bild. Genauer gesagt wurde die Arbeit im Internet ausgestellt, denn nur dort konnte sie erlebt werden. Solche Ersatz-Erfahrungen waren pandemiebedingt nicht ungewöhnlich. Über drei Tage und Nächte konnte man sich ununterbrochen in diese „Aufführung“ einschalten und zwischen drei Kameraeinstellungen wählen. Die erste zeigte den leeren Zuschauerraum und auf der Bühne den im Innern beleuchteten, leeren Raum. Davor saß eine Person, die den Raum betrachtet. Dieser Zeuge (Schneider selbst) war auch auf den beiden anderen, von der Seite gefilmten Einstellungen zu sehen. Er war die ganze Zeit über anwesend. Dann und wann nahm er etwas Nahrung zu sich und in der Nacht schien er vor dem Raum auf dem Boden zu ruhen. Ansonsten harrte er aus, gleichsam als „Rückenfigur“ anstelle der nur medial und wohl auch nur zeitweise anwesenden Zuschauer. Während der ganzen Zeit war Sterberaum das Einzige, was man auf der Website des Theaters sehen konnte. Die für das Publikum geschlossene Institution zogt sich auf sich selbst und fast kommentarlos in ein Bild zurück, das in einer merklichen, aber denkbar offenen Beziehung zur aktuellen gesellschaftlichen Lage stand.
In der knapp zehnjährigen Ausstellungsgeschichte von Sterberaum war mit der Präsentation in einem leeren Theater scheinbar wieder eine Situation wie am Anfang erreicht. Die Unterschiede sind jedoch signifikant. Zum einen stellen sich Werke im Theater anders dar als in einem Museum: Sie „sprechen“ auf andere Weise zum Publikum. Und das nicht nur in einem wörtlichen Sinn, sondern auch auf Grund eines diskursiven Anspruchs, der jeglichen Texten und Aktionen auf der Bühne eingeschrieben ist. Das Publikum befindet sich grundsätzlich in einem Zustand der Erwartung; es wartet darauf, dass etwas geschieht. Die Situation im Museum ist im Vergleich dazu zurückhaltender, sie zielt primär auf Betrachtung, womöglich auf Kontemplation. Die Distanz zwischen Kunstwerk und Betrachter spielt eine größere Rolle und der Adressat ist zumeist der Einzelne und nicht ein Kollektiv. Hier sprechen Kunstwerke nicht, sie zeigen etwas. Sterberaum auf einer Bühne bekommt dagegen eine andere Dringlichkeit, eine Aktualität in situativer Hinsicht ebenso wie im Bezug auf das Geschehen außerhalb des Theaterraums. Hier kommt der zweite wichtige Unterschied zu früheren Präsentationen ins Spiel: Die aktuelle Pandemie und damit Leiden, Sterben und Tod als reale und andauernde Bedrohung und deren Wirkung auf Einzelne und die Gesellschaft. Das Bild Sterberaum wird nun konkreter gelesen – obwohl es so distanziert und abstrakt bleibt wie zuvor. Eine wichtige Rolle spielt dabei der „Zeuge“ vor Ort. Als leiblicher Stellvertreter oder Identifikationsfigur verbürgt er die Realität des Bildes. Als jemand, der vor und mit dem Raum ausharrt, ist er fast so etwas wie ein Vorbild oder eine Aufforderung. Er ist jemand, der sich der Erfahrung in einer der Sache angemessenen Radikalität aussetzt. Denn der Inhalt seiner Anwesenheit, so muss man vermuten, sind das Sterben und der Tod an einem würdigen Ort. Der Zeuge im Theater vollzieht so etwas wie antizipierende Trauer, denn ein konkretes Sterben und ein individueller Tod treten hier nicht ein. Die Situation bleibt Bild. Und dieses Bild ist überdies ein mediales Bild. Es wird in Realzeit, aber elektronisch-geisterhaft aus einem Ort für unmittelbar sinnliche, kollektive Erlebnisse auf einen flachen Screen in eine jeweils private Zelle übertragen. Die enorme wenn auch durch Gewöhnung vergessene mediale Distanz ist nicht nur Ausdruck des sozialen Regimes unter den Bedingungen der Pandemie.
Die Übertragung per Internet steigert vielmehr die Unerreichbarkeit des „Inhalts“ von Sterberaum durch die Verdoppelung der Beobachtung des leeren Raums. Die Bedrohung durch Krankheit und Tod wird notwendigerweise mindestens so unerreichbar wie bei den Medienbildern aus den Intensivstationen. Aber das mehrfach gestaffelte und sich entziehende Bild, das Sterberaum übermittelt, ist dennoch in einer Hinsicht anders. Es ist ein ruhiges, ja meditatives Bild und es zeigt keine konventionellen Zeichen für Tod und Sterben. Der betrachtete Raum hat zwar einen markanten architektonischen Ausgangspunkt, daraus losgelöst präsentiert er sich jedoch in einer klaren Normalität ohne Anspruch auf Kunst. Seine Ästhetik ist gerade so weit entwickelt, dass Schönheit im Sinn von Angemessenheit aufscheint. Sterberaum ist in der stillen Präsentation via Bühne und Internet in erster Linie ein Projektionsraum von genügender Abstraktheit. Man muss in ihn kein konkretes Sterbegeschehen hineinprojizieren, um das Bild zu vervollständigen und es sich als Kunst verständlich zu machen. Vor (oder in) ihm ist Trauer als reale Möglichkeit, als selbsverständlicher Teil der Realität präsent, materialisiert in einem „leeren“ Raumbild. Nur „hinter“ den Wänden diese Raums wird Trauer individuell denkbar. Das ebenso abstrakte wie konkrete Paradox Sterberaum selbst macht keine Vorgaben.
(In: Trauern. Von persönlichem Verlust und politischer Veränderung, ed. by Brigitte Kölle, Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2022, pp. 141-145, revised version of a text written in Janury 2021)