Wechsel von Annäherung, Distanz, Auflösung

Das Bild des Monats im Kunstmuseum Bern – Im August: Nose des belgischen Malers Luc Tuymans, besprochen von Julian Heynen


Der Film braucht eine Unzahl von Bildern und Einstellungen, damit das eine große Bild entsteht, an das man sich erinnert. Verschwenderisch entwirft er ein Kaleidoskop von Augenblicken, die jeder für sich der Anfang einer eigenen Geschichte sein könnten. Jeden Moment neu verstreut sich die Aufmerksamkeit des Betrachters an diese Weite, um schließlich als Erinnerung bei einem Bild (dem Film als Ganzem) wieder zusammenzulaufen. Das ist ein Gebrauch von Bildern, der gesteuert und gesteigert der Erlebnisweise des modernen Alltags entspricht.

Die Malerei wirkt dagegen wie seine Umkehrung. Sie hat alles, was sie sagen kann, in einem einzelnen Bild versammelt. Das Rechteck der Leinwand und des Rahmens stoppen die fließenden Verbindungen zu allen übrigen Bildern. Und doch ruft der Blick auf das eine Bild eine Unzahl anderer wach, die in unseren Erinnerungen und Erwartungen gespeichert sind. Jede Farbe, jede Form ist nur sie selbst in diesem einen Zusammenhang – und zugleich Kristallisationspunkt für zahllose andere Bilder und Bedeutungen. Wo der Film einen Überfluss an bewegten Reizen anbietet und den Wechsel, die Veränderung, das Fortschreiten zu seinem Programm macht, hält die Malerei den Augenblick an und dehnt ihn ins Endlose: Sie konserviert.

Das relativ kleine Bild Nose des belgischen Malers Luc Tuymans ist solch ein eingefrorener Moment, der einen Zusammenhang auflöst, um einen neuen zu schaffen. Das mit Grau und Orange durchsetzte, etwas trübe Ocker der Fläche ist nur an den Rändern zu einer Form hin akzentuiert. Aber auch hier sind es nur Andeutungen und Auslassungen, die sich einer Gestalt nur zu nähern scheinen. Beinahe wie absichtslos wirken die Pinselstriche, wie Reste oder Anfänge in einem verwischten Grund. Nie täuschen sie dabei über ihre Materialität als aufgestrichene Farbe hinweg. Das Auge droht, sich an die Nuancen zu verlieren, gerade so als ob man durch Zufall einmal ganz aus der Nähe den flüchtigen Anstrich einer Wand betrachten würde. Der Blick gleitet zwischen den Details umher, scheint sich in der Leere eingerichtet zu haben. Von irgendeinem Punkt angestoßen, springt er dann jedoch zurück, umfasst plötzlich das Ganze und sieht ein Bild. Aus der Fläche schält sich die Illusion eines Körpers heraus. Bekanntes tut sich auf: der Ausschnitt eines Gesichts.

Versuch einer Synthese

Extrem dicht steht es vor einem; ein Fragment, das dennoch bereits eine Person zu enthüllen scheint. Ein Rechteck zwischen Nasenlöchern und unterem Augenlid, zur Seite versetzt. Jede Distanz scheint aufgehoben. Der Blick erfährt eine Nähe wie sie höchstens eine Abbildung, kaum je die Realität selbst gestattet. So als sei eine Kamera an ihr Objekt herangezoomt und habe eine einzelne Stelle in Überlebensgröße bloßgestellt. Dort aber verharrt das Bild nun in der Unbeweglichkeit der Malerei. Alle Referenzpunkte außerhalb dies Rechtecks und dieses Moments sind gekappt. Nur hier ist die Arena des Bildgeschehens, nur hier ist die Arena für unsere Aufmerksamkeit, für unser Sehen und Verstehen. Der Ausschnitt macht es uns allerdings schwer: Er ist groß genug, um das Sujet zu erkennen, aber er ist gleichzeitig zu klein, um wirklich Näheres über dieses Gesicht zu erfahren. Die fleischige, breite Nase und die fahle Farbe der Haut suggerieren einen Typ, und schon in der Andeutung des Augenlids glaubt man, einen Blick zu erkennen. Genauso schnell entgleitet dieser Versuch einer Synthese aber auch wieder. Was eben noch als Ansatz eines Porträts erscheinen konnte, reduziert sich auf ein Probestück Körper oder Haut, wenn es nicht gar erneut in der reinen Farbfläche verschwimmt.

Cockeyed

Nose erinnert an ein anderes Bild, das zwei Jahre früher gemalt wurde und von ähnlich doppeldeutiger Leere ist. Bei Cockeyed ist der Ausschnitt nach oben verschoben, die Oberfläche viel weniger modelliert, und die von den Seiten hereinragenden Bögen geben dem Ganzen den Charakter eines grafisch angelegten Bilderrätsels. Der schiefe Blick dieses Gegenübers lässt sich kaum fixieren und geht immer wieder im angeschmutzten Rosa des Untergrunds verloren. Und in der Tat war hier auch nicht ein menschliches, sondern ein rudimentär bemaltes Puppengesicht der Ausgangspunkt.

Bei Nose haben die malerischen Andeutungen eine größere Tiefe und Verbindlichkeit erlangt, ohne jedoch eindeutiger zu werden. Cockeyed wirkt wie das Diagramm eines Close-up, wie die Erinnerungsnotiz an ein zufällig wahrgenommenes Detail, dessen Rätselhaftigkeit an sich faszinierte. Nose dagegen steigert die physische Präsenz, rückt menschliche Haut in den Vordergrund, bedrängt mit der Ahnung eines Gegenübers, dessen Intimitätsgrenzen überschritten wurden – und fällt als Malerei doch immer wieder hinter solche Visionen zurück. So als ob der Name oder der Inhalt dieses  Bildes, dieser Erinnerung nicht ausgesprochen werden könnte oder dürfte.

Der diagnostische Blick

Zwischen der Entstehung von Cockeyed und derjenigen von Nose hat Luc Tuymans zwei Reihen von Bildern gemalt, die nicht nur den Hintergrund dieser beiden Arbeiten, sondern das Besondere seiner Malerei überhaupt deutlicher machen können. Die eine trägt den Titel Der diagnostische Blick, und ihre Motive haben tatsächlich etwas mit dem Erkennen und Unterscheiden von Krankheiten zu tun. Es sind Gesichter und andere Körperpartien von Menschen mit unterschiedlichen Krankheiten wie man sie als exemplarische Fälle in medizinischen Lehrbüchern abgebildet findet. Hinter dem „die Erkennung begründenden Blick“ steht die Absicht und der Anspruch, mit den Möglichkeiten des verstehenden Auges zu den Dingen vorzustoßen. Und insbesondere zu solchen Dingen, die komplex, verborgen, bedrohlich, existentiell sind. Nicht umsonst war früher ausdrücklich von der „Kunst“ der Diagnose die Rede, also auch von Intuition, dank deren sich beim ersten Anblick ein Bild einstellt, das einen den Kern der Sache sehen lässt, ohne dass das Wie und Warum im Einzelnen gleich benennbar wären. Auch Tuymans’ Malerei erschließt sich weniger (häufig kaum) über die folgerichtige Beschreibung des Dargestellten, sondern durch die Art und Weise, wie sie an ihrem Inhalt gewissermaßen Anteil zu nehmen, wie sie ihn aus der Distanz zu berühren versucht. Eingeschrieben aber bleibt ihr der Blick, der Moment der uneingeschränkten Hinwendung, ja der Absicht, etwas außerhalb von ihr selbst erkennen zu wollen.

Spiegel und Schatten

Die andere Reihe von Bildern trägt die Bezeichnung Spiegel oder Schatten. Nimmt man noch einmal Titel und Themen als Metaphern, dann treffen die Blicke also immer wieder auf Spiegel, die sie zurückwerfen und so die vermeintlichen Bilder brechen oder vereiteln. Kein Bild ohne Blick also auch insofern, als dass der Wille, etwas zu sehen, zu erkennen oder zu erinnern, immer zugleich schon die Sache selbst verstellt oder verschwinden lässt. Schatten ihrerseits sind ähnliche Zonen des Zweifels und der Weglosigkeit. Es sind Räume eines halben Sehens, das sich an dieser Beschränkung reibt und sie zugleich akzeptiert (wie die Melancholie). Jeder Blick, den die Malerei lockt, ist so von der Vergeblichkeit bedroht. Das Malen aber beschreibt gerade diesen Weg, den ständigen Wechsel von Annäherung, Distanz und Auflösung. Jedes Bild ein (Um-)Weg auf einem Feld, das Erinnern im weitesten Sinn heißt. Luc Tuymans bedient sich dabei einer Form von Malerei, die nicht um ihrer selbst willen, sondern instrumentell eingesetzt wird und überkommene Genres als Vehikel oder Verkleidung benutzt. So skizzenhaft und fragmentarisch vieles wirkt, man spürt, dass diese Bilder durch einen langen Prozess des Erspürens und Bedenkens sowie des häufigen Übermalens gegangen sind.

Ein Niemandsland

Die meist kleinen Formate schließlich deuten ihrerseits an, dass hier nicht aus einer Position der selbstverständlichen Stärke und Gewissheit formuliert wird. Viele von Tuymans’ Themen (und nicht nur diejenigen, die mit den kollektiven Katastrophen des Jahrhunderts zu tun haben) sperren sich gegen das Bild. Sie sind sozusagen in besonderem Masse flüchtig, weil die Malerei nicht wirklich die jeweiligen Gegenstände, Räume und Körper selbst dingfest machen kann, sondern die Annäherung an sie beschreibt. Das Bild handelt von der Intention, die sich auf die Dinge zubewegt, nicht von ihrer Erfüllung.

Die Malerei hat schon seit längerem einen seltsamen Stellenwert, oder anders: sie scheint sich in einer Art mitunter produktiven Dauerkrise zu befinden. Die Welt als gedachte Einheit hat sich in eine Fülle von Fragmenten und Einzelperspektiven aufgelöst, und damit ist der Malerei viel von ihrem zuvor selbstverständlichen und im Spiel von Abbild und Distanz notwendigen Widerpart verlorengegangen. Die Verhältnisse zwischen Malerei und Wirklichkeit hinken seitdem. Darüber hinaus haben ihr andere Arten der Bildherstellung die Fähigkeit, die Welt zu erfassen, mit Erfolg streitig gemacht. Und so ist Malerei heute nicht mehr allein Der zerbrochener Spiegel, wie es kürzlich eine große Ausstellung formulierte, sondern ihr Ort gleicht einem Niemandsland. An diesem Ort sinnvoll weiterzuarbeiten, beinhaltet auch die Anerkennung der Schwäche der Malerei, ihrer Regressivität, wie Tuymans sagen würde. Aber gerade hier liegt eine Möglichkeit. Es kann ein Freiraum entstehen, in dem Malerei nicht blind, aber weitgehend unbehelligt mit ihren nicht vom zeitgenössischen Alltagsgebrauch bestimmten Mitteln operieren kann. Die Qualitäten ebenso wie die Gefährdungen von Malerei sind dann in der Unabhängigkeit und Fremdheit gegenüber einer Kultur zu entdecken, die von ganz anderen Arten von Bildern geprägt ist. Es bleibt eine Gratwanderung; Widerstand und Verlorensein liegen dicht beieinander.

Verlust des Bildes

Luc Tuymans arbeitet in diesem Niemandsland an jenem „Verlust des Bildes“, mit dem wir leben müssen. Seine Stoffe jedoch stammen aus Territorien, die keineswegs abgelegen oder geschützt sind. So sehr sie aus der Perspektive der Erinnerung entworfen sind, durchzieht alle seine Bilder doch eine widersprüchliche Komplexität, die uns immer wieder neu als zeitgenössisch erscheint, weil in ihnen etwas nicht Erledigtes fortdauert. Womöglich ist gerade die in ihnen latent vorhandene Gewalt der Antrieb, diese notwendig zum Scheitern verurteilte Bildfindung zu betreiben. Sie ist Antrieb, weil sie Skandal ist, und sie ist zugleich das, was sich ebenfalls dem Bild entziehen wird.

 

(Published in: Der Bund, Bern, volume 144, no. 194, Saturday, August 21, 1993)